Es ist nicht so, dass “X-Men: Erste Entscheidung” grundsätzlich ein schlechter Film ist. Zumindest nicht im Boll/Bay/Ratner-Sinne. Aber er ist trotzdem eine Enttäuschung. Regisseur Matthew Vaughn hat am Schneidetisch eine uninspirierte Nummernrevue zusammengehackt, der alles fehlt, was die ersten beiden Filme ausgezeichnet hat: Witz, Story und Atmosphäre.
Zugegebenermaßen tritt Vaughn ein schweres Erbe an. Bryan Singer hatte nämlich mit “X-Men 1” und “2” ein ungeschriebenes Gesetz des Genres widerlegt: Dass zu viele Superhelden einen Film kaputt machen. “Batman und Robin” und später “Spiderman 3” hatten eindrucksvoll bewiesen, wie man eine gute Serie an die Wand fahren kann. Singer und seine Drehbuchautoren schafften es dagegen, eine ganze Handvoll Superhelden glaubwürdig einzuführen. Zwar setzte er eher auf eine relativ konventionelle Geschichte, aber die Actionszenen und das ernsthafte Plädoyer für Toleranz rundeten die Filme ab. Der dritte Teil “X-Men: Der letzte Widerstand” stand dagegen unter keinem guten Stern. Nach einigem Hin und Her übernahm Brett Ratner die Regie für einen Film, bei dem das Drehbuch noch nicht einmal fertig geschrieben war. Das Ergebnis war zwar erfolgreich, aber gleichzeitig eine Aneinanderreihung üblicher Action- und Heldenklischees. Das folgende Prequel “X-Men Origins: Wolverine” hat sogar nach dem Raubkopien-Skandal im Vorfeld nichts zu bieten.
Nun ist also Matthew Vaughn an der Reihe und die Vorzeichen standen nicht schlecht. Ich hatte zwar so einige Probleme mit seinem letzten Film “Kick Ass”, aber die visuelle Wucht konnte ich ihm nicht absprechen. Überhaupt war der ganze Film sehr stimmig, sofern es die Atmosphäre betraf. Originell und witzig fing er die Träume und Ängste einiger Nerds ein, inszenierte diverse derbe Actionszenen und unterlegte das Ganze mit passender Popmusik. Kurzum, die Zuschauer durften gespannt sein, wie er die Anfänge der X-Men in den 60er Jahren umsetzen würde. Heute weiß ich, dass die Hoffnung vergebens war, denn Vaughn hat einen austauschbaren Action-Film gedreht. So betrachtet also die logische Fortsetzung der unmittelbaren Vorgänger.
In weiten Teilen serviert uns Vaughn eine Pilotfolge für eine Fernsehserie. Die Inhaltsangabe schenke ich mir. Nur so viel: Es geht um die Gründung der X-Men und wie Freunde zu Feinden werden. Die Szenen springen in schöner Regelmäßigkeit hin und her, damit auch alle “Helden” ihre Momente bekommen. Die Action-Szenen hat man so oder ähnlich schon in 100 anderen Filmen gesehen, und am Ende waren mir fast alle Figuren vollkommen egal. Bis auf eine Ausnahme: Michael Fassbender liefert als “Erik” eine “Kickass”-Performance. Er schafft es tatsächlich, dass man dem zukünftigen Bösewicht “Magneto” echte Sympathie entgegenbringt. Der Rest der Besetzung macht nicht mehr als nötig. James McAvoy greift sich als zukünftiger “Professor X” ständig sehr bedeutungsvoll an die Schläfe, Kevin Bacons Leistung als deutscher Nazi-Doktor liegt irgendwo zwischen “genial” und “völlig daneben” (Tipp: Bacons “Deutsch” im Original sehen!) und bei Jennifer Lawrence (“Winter’s Bone”) frage ich mich, wieso ihr Hollywood momentan zu Füßen liegt. Aber zugegeben, das Drehbuch liefert ihrer “Mystique” auch keine nennenswerten Szenen.
Wo Vaughn aber vollends versagt, ist die Atmosphäre. Auf dem Papier spielt der Film in den 60ern, aber außer der ach so originellen Kuba-Krise (Wer löst die wohl?) gibt es hier nichts, was auf diese Dekade hindeutet. Da frage ich mich ernsthaft, ob der Regisseur, die Drehbuchautoren oder die Produktionsdesigner sich überhaupt ein Bild vom Beginn des Popzeitalters angesehen haben. Mein Gott, das war die Zeit der visuellen Rebellion! Die Beatles drehten den ersten Videoclip, die Nouvelle Vague veränderte unsere Sehgewohnheiten und von den Einflüssen auf die Jugendkultur will ich gar nicht erst anfangen. Dieser reichhaltige Fundus ist eine Steilvorlage für jeden Filmemacher, und dieser hätte mit den verschiedenen Versatzstücken aus Film und Musik spielen können, schließlich sind Comics und Superhelden Popkultur. Bei Vaughn hat es nur zu einer kurzen Splitscreen-Sequenz gereicht. Und statt Popmusik bläst orchestrales Hintergrundgetöse von der Stange aus den Boxen. Ich kann nur vermuten, dass Vaughn den Film als reines Auftragsprojekt betrachtet hat. In seiner kurzen Filmografie als Regisseur (“Layer Cake” oder dem bereits erwähnten “Kick-Ass”) und Produzent (“Snatch”) sticht “X-Men: Erste Entscheidung” als unpersönliches Hollywood-Einerlei hervor, das so irgendwann, irgendwo und irgendwie hätte spielen können.
Aber vielleicht hatte ich bei der Pressevorführung nur einen schlechten Tag erwischt. Der Film tut schließlich niemandem weh, bleibt schön politisch korrekt und hat eine geradlinige, actionreiche Dramaturgie. Es ist aber trotzdem Stangenware – eine vergebene Chance.
Ihre Kritiken sind ja manchmal ganz schön ungnädig. Kick Ass war doch wirklich klasse, driftete lediglich zum Schluss hin ins Unwahrscheinliche ab. Also genau nicht dahin wo er noch begonnen hatte. Allein die Musikauswahl war hörenswert, so ein Erlebnis mit zusammengesammelten populären Tracks in einem Film hatte ich bewusst nur in Watchmen.
Ich erwarte nun auch nicht grad besondere innere Aufwallungen wenn ich mir den neuen X-Men ansehe, aber ob er wirklich nur so lieblos und durchschnittlich ist wie sie sagen, davon werd ich mich doch nochmal persönlich überzeugen. :)
Lieblos war der Film ganz und gar nicht. Eben nur eine Comic-Verfilmung, und dazu noch ein Superhelden-Comic. Sowas kann nicht sehr episch werden.
Aber auf jeden Fall besser als X-Men: Origins – Wolverine und als X-Men 3
Die Beziehungen zwischen den Hauptpersonen sind wirklich gut hervorgetreten und auch sonst passte alles gut in das Gedankengebilde, das ich als Kinobesucher vom X-Men-Universum hatte.