Nach drei Staffeln „Sherlock“ und den beiden Kinofilmen mit Robert Downey Jr. musste ich bei „Sherlock Holmes: Crimes & Punishment“ erst einmal wieder runterkommen. Der von Sir Arthur Conan Doyle ersponnene Meisterdetektiv war nie der hektische, extrovertierte oder gerade seinem Freund Watson gegenüber abwertende, überhebliche Typ. Auf gewisse Weise kommen die Entwickler von Frogwares mit ihrer eigenen Interpretation der Figur Sherlock Holmes meinen Vorstellungen, die ich beim Lesen seiner zahlreichen Abenteuer in meinem Kopf zusammenbastelte, recht nahe. Bis auf ein paar Ausnahmen.
Wer ist Sherlock Holmes?
In den letzten Jahrzehnten wurde Sherlock Holmes auf vielfältige Art und Weise dargestellt. Mein persönlicher Liebling war Basil Rathbone, der 1939 in „Der Hund von Baskerville“ und „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ mit Humor und Charme Fälle löste – bevor er als Propagandafigur während des 2. Weltkrieges zum Actionhelden mutierte. Naja. Keine Frage: Die letzte BBC-Interpretation mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman ist höchst unterhaltsam, spaßig und clever, allerdings in meinen Augen kein klassisches Sherlock Holmes. Wie auch, spielt die Geschichte in der Gegenwart. Ebenfalls nicht überzeugend waren die zwei auf Action getrimmten Kino-Abenteuer mit Robert Downey Jr. als Holmes.
Witzigerweise scheint mir die TV-Serie aus den 1980ern die zu sein, die als Vorlage für Frogwares „Sherlock Holmes: Crimes & Punishment“ herhalten durfte. Zugegeben: Ich mag die 13 Episoden lange Reihe nicht sonderlich, was sicherlich an Jeremy Brett liegt. Er sieht dem digitalen Sherlock Holmes im Spiel doch sehr ähnlich. Gleiches gilt für Watson. Zufall? Vielleicht. Egal? Vermutlich. So oder so serviert euch das britische Studio ein sehr nostalgisch anmutendes Spiel, das ihr durchaus als sehr ruhige Interactive Novel bezeichnen könnt. Die Point&Click-Mechanik haben die Macher längst abgestreift, was ich wirklich begrüße. Denn so kann ich mich auf die Fälle konzentrieren, mich überraschen lassen und Nachforschungen anstellen. Wie es Sherlock vielleicht gemacht hätte. Hätte es ihn gegeben.
Eigentlich ist er ja….
Ehrlich gesagt war mir Sherlock in „Crimes & Punishment“ zu Beginn nicht sonderlich sympathisch – wie Jeremy Brett. Ähnlich wie in den Filmen und Serien ist er weitgehend unfreundlich und weiß seinen Mitstreiter Watson kaum zu schätzen. Das ist ein Aspekt, der mir schon immer missfiel: Der Doktor war es, der Sherlocks Erlebnisse aufschrieb , ihm stets zur Seite stand und mit seinem Wissen auch in den Fällen behilflich war. Sherlock dankte es ihm mit einer Aufrichtigkeit und Respekt. Und eben nicht mit Arroganz. Im Spiel wird mir dies leider viel zu selten vermittelt, oftmals sind Watsons Kommentare dümmlich und einfältig. Mal ehrlich: Er ist ein gebildeter Mann, ein Arzt, ein Schriftsteller – kein dämlicher Lakai. Seine Rolle sollten die Autoren bei Frogwares überdenken, denn auch in den Geschichten von Doyle war er nicht nur das Schattenwesen hinter dem Detektiv.
Bei Sherlock dagegen scheint es seit jeher einfacher zu sein, ihn zu formen. Er ist exzentrisch, hoch intelligent und besitzt eine Vorliebe für Drogen, die er – natürlich – für seine Experimente benötigt. Das konnten gerade Benedict Cumberbatch und ausnahmsweise auch Robert Downey Jr. in Ansätzen glaubwürdig vermitteln. Bei „Crimes & Punishment“ bleibt die Ausarbeitung des Charakters recht oberflächlich, was bedauerlich ist. Es hätte den erzählten Geschichten nicht geschadet, hätten der Protagonist und sein Kompagnon mehr Profil besessen. Eigentlich gilt das auch für die Nebendarsteller, Insepektor Lestrade oder Mycroft Holmes zum Beispiel.
Point&Click-Adventure ohne Point&Click
Ich spielte früher irgendeine “Sherlock Holmes”-Episode von Frogwares an. Viel Freude hatte ich mit der nicht, vor allem aus einem Grund: Point&Click-Mechanismen sind mir zu anstrengend. Beliebige Objekte suchen, diese auch noch auf seltsame Art und Weise mit anderen kombinieren – immer und immer wieder? Bäh! Bei „Crimes & Punishment“ reduzierten die Macher diese Elemente auf ein Minimum. Klar, ihr schaut nach Beweisen oder durchstöbert Gebiete nach verdächtigen Dingen und begutachtet was auch immer, doch das geschieht eher auf einer seichten, eher simpel gehaltenen Ebene. In den Fokus rücken die Fälle, die Geschichten, die Motive der Beteiligten. Verdammt gut ist dabei die Möglichkeit, in Erfahrung gebrachte Informationen zu sammeln und diese miteinander zu verknüpfen. Ihr spielt quasi gedanklich den Mord oder den Vorfall durch und kommt so zu einem oder gar mehrere Täter. Ja, das ist an sich ein typisches Point&Click-Adventure-Element, nur auf einer intellektuellen Ebene und weg von banalen Gegenständen. Plötzlich ist das für mich total spannend, zumal das Ziehen von Schlüssen auch falsch verlaufen kann, ihr also einen Unschuldigen in den Knast bringen dürft. Dass das letztlich keine Auswirkungen hat und ihr sogar sämtliche Auflösungen eines Falls ausprobieren dürft, ist an sich ärgerlich. Ihr spielt zwar jedes Szenario durch, erkauft wird dies mit Verlust von Authentizität.
Apropos: Ewig lange Ladezeiten zwischen Orten, die ihr regelmäßig besuchen müsst, ein sehr linearer Verlauf und immer die gleichen Vorgehensweisen enttäuschen und nerven mich sehr. Die recht leblosen Schauplätze und die fehlende Synchronisation (zum Glück: schönste englische Sprecher) sind mir persönlich unwichtig, denn allgemein stimmt die Atmosphäre. Auch die Fälle fesseln mich an die PlayStation 4. Nur ist eben das Drumherum noch nicht bis zum Ende gedacht: Einerseits wurden die Geschichten und die Figuren im Vordergrund gehievt (toll), andererseits belästigen mich die uralten, redundanten Spielelemente, die spätestens nach dem zweiten, dritten Durchlauf überflüssig sind. Alleine das regelmäßige Analysieren potentieller Täter – das ist totaler Quatsch.
Interactive Short Stories
„Crimes & Punishment” hätte mich eine ganze Ecke mehr begeistert, wenn die Entwickler mehr Mut bewiesen hätten. Gerne weniger Spiel, dafür mehr Handlung und das…wie nenne ich es am besten….Zwischenmenschliche?! Beobachten! Forschen! Kombinieren! Psychische Abgründe vernehmen! All das, was ein Sherlock Holmes auszeichnet, möchte ich erleben. Hier kratzt „Crimes & Punishment“ noch sehr an der Oberfläche des (technisch) Möglichen. Die Ansätze, also die gedankliche Analyse der Fälle und auf jeden Fall das glaubwürdige Szenario, sind der richtige Weg. Nur muss sich Frogwares weiter von dem betagten Adventure-Ursprung entfernen, um neue Akzente setzen zu können.
Ich will „Crimes & Punishment“ nicht verteufeln. Ganz und gar nicht! Mir gefällt das Spiel. Das ruhige, besonnene Erzähltempo, ganz ohne Stress und übertriebener Aufgeregtheit – so gefällt mir das. Ich rede mit Leuten, überlege meine nächsten Schritte und denke darüber nach, wer eigentlich für einen Mord oder das Verschwinden eines ganzen Zuges verantwortlich gewesen sein könnte. Mit der Zeit schließe ich auch den frostigen Sherlock in mein Herz, obwohl ich sein Verhalten Watson gegenüber nach wie vor nicht hinnehmen möchte. Nur wie eingangs erwähnt: Das hat wohl bisher eh noch niemand für meinem Geschmack vernünftig hinbekommen.
Nach „Sherlock Holmes: Crimes & Punishment“ wünsche ich mir mehr als je zuvor einen interaktiven Krimi mit dem Meisterdetektiven, dessen Geschichten ich vor weit über 20 Jahren verschlang und der mich seitdem begleitet. Frogwares ist nicht weit von diesem Ziel entfernt, muss allerdings noch am Storytelling feilen und rigoros überflüssige Elemente streichen. Hach, das wäre schön. In dieser Form kann ich euch „Crimes & Punishment“ trotzdem empfehlen: Erwartet keine Umsetzung der TV-Serie „Sherlock“ und auch kein Point&Click-Gedöns, dann klappt es mit dem Spaß.