So ein Sammler wie ich, der sich eigentlich alles sofort kauft, was er sich dringend wünscht, der ist nicht leicht zu überraschen. Vor gut einer Woche war es aber mal wieder soweit: Ich stehe im hiesigen MediaMarkt in der Blu-ray-Abteilung, als mich die brandneue Edition von “Im Westen nichts Neues“ angrinst. Der alte Schinken von 1930 auf solch einem hochmodernen Medium?
Jeder, der einen IMDB-Account besitzt, hat dort sicher irgendwann einmal seine Lieblingsfilme bewertet. Die höchstmögliche Punktzahl liegt bei 10 von 10 – etwas, was man nur sehr selten vergeben sollte. “Im Westen nichts Neues“ gebührt aus meiner Sicht diese Ehre – und zwar als ältester mir bekannter Film (wobei ich zugegebenermaßen noch einige sehr großen Wissenslücken habe, was die Zeit der Stummfilme anbelangt). Als ich ihn erstmals vor knapp zehn Jahren sah (auf einer damals ”hochmodernen“ DVD), war ich sichtlich platt vor Erstaunen. Das Ding ist dermaßen ehrlich und schonungslos, wie es die meisten Anti-Kriegsfilme von heute nicht hinbekommen.
1914, mitten in Deutschland: Der erste Weltkrieg ist ausgebrochen, die allgemeine Stimmung im Land euphorisch. Ein alter Lehrer, mit seinem feschem Schnurrbart, grauem Haar und seiner kleiner Brille richtig schön intellektuell aussehend, stellt den Unterricht ein und spornt seine Schüler dazu an, sich zu melden sowie für das Vaterland zu kämpfen. Im ungebrochenen Jubel zieht die gesamte Klasse geschlossen in den Krieg. Doch schnell stellt jeder für sich fest, welch großer Fehler er begangen hat – früher oder später.
Sowohl das gleichnamige Buch als auch der darauf basierende Film von Lewis Milestone gehen schonungslos mit den Charakteren um. Die meisten finden den Tod auf dem Schlachtfeld, die wenig Überlebenden sind auf immer gekennzeichnet – sei es psychisch oder physisch. Protagonist Paul Bäumer sieht mit an, wie seine Klassenkameraden ewig lange leiden oder urplötzlich und mit einem Fingerschnippsen sterben. Seine eigene Kriegsbegeisterung verfällt schnell – nur das Schäferstündchen mit einer unbekannten Französin, deren Worte er nicht versteht, sowie der kurze Besuch bei Mutter, Vater und Schwester gegen Ende des Films entlocken ihm so etwas wie Lebensfreude. Doch im gleichen Zuge betritt er die neue Klasse seines alten Lehrers, der weiterhin seine Schüler ermutigt, für Deutschland zu kämpfen und zu sterben. Dieser ist entsetzt, als Paul das Spiel nicht mitspielt und den Jungs (denn Männer sind es nicht, die hinter der Schulbank sitzen) von den Schrecken des Kriegs erzählt.
Spätestens bei diesem Zwiespalt wird jedem bewusst, wie es überhaupt soweit kommen konnte: Dass irgendwelche alten Säcke, die von Ruhm und Ehre schwadronierten, ihre eigenen Kinder auf das Schlachtfeld schickten, ohne dabei zu realisieren, was dies bedeutete. Gerade dieser Lehrer hat mutmaßlich noch nie einen toten Menschen gesehen und schon gar keine zerfetzte Leiche. Er kennt nicht das unerträgliche Pfeifen und Knallen der Kriegsmaschinerie, die laut “Im Westen nichts Neues“ tagelang zum Einsatz kam – wohlgemerkt nicht, um den Feind damit direkt zu schwächen, sondern nur um ihn mürbe und wahnsinnig zu machen. So oder so: Wäre auch der Lehrer mit den Krieg gezogen, er wäre ein anderer Mensch geworden.
Vielleicht hätte er das gleiche Schicksal erleidet, wie der Briefträger: Der ist zu Kriegsbeginn noch furchtbar nett, mutiert bereits im Trainingscamp zu einem überheblichen Arschloch und stirbt vor Angst um sein Leben wimmert nur wenige Sekunden während seines ersten Einsatzes gegen den Feind. Ähnlich beklemmend ist die Szene mit den Schuhen, die in einer kurzen Montage von einem Besitzer zum nächsten wechseln – eben weil diese jeweils nicht besonders lange überlebten.
“Im Westen nichts Neues“ würde nicht funktionieren, wenn trotz der brisanten Thematik kein guter Film dahinter stecken würde. Lewis Milestone war glücklicherweise ein außergewöhnlicher Regisseur, der sich allein aufgrund einzelner Szenen sein eigenes Denkmal setzen zu vermochte. Fantastisch ist bereits eine Szene am Anfang, in der einer der Klassenkameraden frisch in seiner neuen Uniform nach Hause rennt, um seinen Eltern stolz von seinem Entschluss zu erzählen. Man sieht nur die Bilder und hört im Hintergrund weiter den Lehrer schwadronieren, während zwar der Vater sichtlich gerührt ist, jedoch die Mutter entsetzt aufschreit, weil sie sofort die Gefahr hinter dem Vorhaben ihres Sohnes realisiert.
Regelrecht schockierend ist die erste Schlachtenszene, in der die Franzosen ungebremst auf die Gräben der Deutschen rennen. Im Hintergrund schlägt eine Bombe nach der anderen ein, von vorne rattern unaufhörlich die Maschinengewehre und ermorden ohne Erbarmen die ersten Reihen der Soldaten. Dann sieht man frontal und in Großaufnahme einen einzelnen Mann, wie dieser sich an einem Stück Draht festhält. Ein Knall, ein paar Sekunden Rauch und an dem Draht hängen nicht mehr als seine Hände. Der Rest von ihm… ist weg.
Weil der gesamte Film aus Sicht der Schüler und primär aus Sicht von Paul gezeigt wird, erfährt der Zuschauer nie den “Grund“ des Krieges. Die Soldaten selbst erzählen sich die aberwitzigsten Geschichten, wie es überhaupt zur Konfrontation kam. In den Gräben selbst wirkt keiner mehr überzeugt oder wirklich mutig, sich für das eigene Vaterland in den Tod zu stürzen. Wozu auch? Niemand vor Ort scheint den Sinn hinter dem Massaker zu verstehen. “Im Westen nichts Neues“ zeigt ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, was diejenigen wussten, die damals ihr Leben aufs Spiel setzten: nämlich gar nichts.
Da ich hier und heute über den Film aufgrund seiner jüngsten Blu-ray-Veröffentlichung berichte, sollte ich noch ein paar Worte zur technischen Umsetzung verlieren. Verglichen mit der DVD-Version ist die Qualität bedeutend besser, das Bild viel klarer und die Anzahl der Artefakte eindeutig geringer. Es ist wirklich erstaunlich, wie gut und scharf “Im Westen nichts Neues” nach über 80 Jahren ausschaut. Dafür enttäuscht ein klein wenig der englische Originalton, der sich zwar ebenfalls gegenüber der DVD-Veröffentlichung positiv hervor hebt, jedoch nicht ganz ohne rauschen auskommt. Als besonderes Extra liegt der Blu-ray noch die ursprüngliche Stummfilmversion bei, die im gleichen Jahr gedreht wurde und bis vor kurzem noch als verschollen galt.
Somit steht einer uneingeschränkten Kaufempfehlung nichts im Wege: “Im Westen nichts Neues” ist einer der ganz seltenen Filmklassiker, die so gut wie gar nicht altern. Einzig die schauspielerische Leistung der jungen Soldaten ist für meinen Geschmack an ein paar Stellen überdramatisch und wirkt aus heutiger Sicht künstlich. Wer jedoch sowieso auf klassische Theaterschauspielkunst steht, dem wird dies gar umso mehr munden. Ansonsten könnten grüne Michael-Bay-Fans über das Schwarz-Weiß-Bild sowie den hohen Anspruch der Thematik lästern. Aber das ist deren Verlust.