Es ist der Albtraum eines jeden Diplomaten: In einem fremden Land wird die eigene Botschaft vom wütenden Mob überfallen und fast die gesamte Belegschaft als Geiseln genommen. Einige Mitarbeiter schaffen es zwar, das Gebäude unbemerkt zu verlassen, jedoch verkomplizieren sie die Situation umso mehr, weil sie nicht aus dem Land fliehen können und untertauchen müssen. Sollte der Aggressor von den Desertierten Wind bekommen, so ist das Leben aller Beteiligten in Gefahr: die der Geiseln, die der Geflohenen und die der Unterstützer.
Genau dies passierte vor über dreißig Jahren im Iran, als der Schah gestürzt und dieser fliehend von der amerikanischen Regierung aufgenommen wurde. Die erzürnte Bevölkerung hingegen sinnt nach Rache und verlangt die Auslieferung ihres ehemaligen Regenten. In ihrem Zorn überfallen sie wie oben angedeutet die amerikanische Botschaft und nehmen vermeintlich die gesamte Belegschaft als Geiseln, ohne zu bemerken, dass sich just zuvor vier Männer sowie zwei Frauen aus dem Staub gemacht haben. Diese werden wiederum von dem Botschafter Kanadas aufgenommen und über Monate hinweg versteckt. Leider existiert ein Fotoalbum, auf dem alle im Iran ansässigen Mitglieder der US-Regierung abgelichtet sind. Dieses wurde zwar noch rechtzeitig in den Schredder gesteckt, jedoch basteln iranische Kinder (!) fleißig die Fetzen wieder zusammen. Und wenn die Iraner dann feststellen sollten, dass da sechs Leute fehlen, dann wäre die Kacke aber so richtig am dampfen…
Nach gut drei Monaten wird Tony Mendez als Berater zu einer Krisensitzung des CIA hinzu gebeten. Irgendwie müssen die sechs flüchtigen Amerikaner aus dem Land raus – ohne, dass die USA dafür verantwortlich gemacht werden könne. Schließlich steht ansonsten das Leben der Geiseln auf dem Spiel. Sämtliche bislang erörterten Pläne scheinen nicht realisierbar zu sein oder unterliegen einem immens hohen Risikofaktor. Doch dann kommt Mendez auf eine richtig kaputte Idee: Man solle so tun, als ob man einen großen Science-Fiction-Film produziere. Dafür benötige man fremdländisch aussehende Locations, weshalb man dem Iran vorgaukeln solle, ihr Land sei einer der möglichen Drehortkandidaten. In dem Zuge würde einfach behauptet, die sechs Amerikaner seien eigentlich Kanadier und eben an dieser Filmproduktion beteiligt – der eine als Regisseur, die andere als Drehbuchautorin, der dritte als Kameramann, und so weiter. Zusammen mit gefälschten Pässen sowie der Ausarbeitung falscher Identitäten sollte es möglich sein, auf diese Weise alle ohne großes Aufsehen aus dem Land zu schleusen.
Was sich wie ein völlig irrer Plan anhört, der dem Hirn eines wahnwitzigen Drehbuchautoren entsprungen zu sein scheint, ist in der Tat 1980 passiert. Die Aktion blieb fast zwanzig Jahre lang geheim, bis Präsident Clinton die Akten freigab und Tony Mendez öffentlich für seine Idee sowie deren Ausführung ausgezeichnet wurde. Weitere 15 Jahre später schnappt sich Ben Affleck (!) das Drehbuch und strickt daraus seinen dritten Kinofilm. Und bei Gott: Wer den Mann als Schauspieler aus solch Machwerken wie “Gigli“ oder “Pearl Harbor“ kennt, der ist einfach nur fassungslos, welch vormals verborgendes Talent in ihm steckt – und auch irgendwie heilfroh, dass dieses nun in dieser Form zum Tragen kommt.
Nun gut: Der Filmkenner weiß, dass der Erfolg von “Argo” nicht ganz so überraschend ist. Affleck hatte bereits seit 2007 mit “Gone Baby Gone“ sowie “The Town“ bewiesen, dass er sich eher hinter anstatt vor der Kamera wohl fühlt. Konnte man diese beiden Filme bereits als Achtungserfolge abstempeln, so gilt “Argo“ ohne Witz als derzeit sicherster Kandidat für die nächste Oscar-Verleihung. Gerade in den großen Kategorien, wie bester Film, beste Regie oder bestes Drehbuch, ist die Nominierung so sicher wie bei keinem anderen Streifen des Jahrgangs 2012.
Was macht “Argo“ so gut? Zum einen ist es natürlich der Stoff an sich, der sich für Affleck sowie alle anderen Beteiligten wie ein Gottesgeschenk angefühlt haben muss. Es sei gleich vorweg gesagt, dass sich das Drehbuch einige Freiheiten nimmt und die eigentlich gar nicht mal so dramatische Befreiungsaktion enorm packend gestaltet. Auf der einen Seite könnte man Affleck vorwerfen, er verfälsche die Wahrheit und vermixe eine reale Geschichte mit überzogenen Spannungsmomenten. Allerdings sollte man ihm das nicht krumm nehmen, weil die Inszenierung ungemein gut und vor allem glaubhaft ist. Obwohl ich wusste, inwiefern Mendez Plan im realen Leben aufging, saß ich gegen Ende wie erstarrt im Kinosessel. Das sind so mit die besten Filme, die auf wahren Begebenheiten beruhen: die eine Spannung aufbauen, in der man Dinge befürchtet, von denen man eigentlich weiß, dass diese nicht eintreten.
Darüber hinaus stimmen die Dialoge, die kurz und knapp auch die komplexesten Zusammenhänge leicht verständlich sowie ohne große Fragezeichen erklären. Ebenfalls hervorragend ist die humorvolle Komponente, die allein aufgrund des bizarren Plans ganz automatisch entsteht. Mendez weiht ein paar Filmemacher ein, mit denen er gemeinsam eine echte Presseveranstaltung organisiert und aufwändig Skizzen für ein potenzielles Storyboard erstellt – das Ergebnis gleicht einer schlechten Version von “Flash Gordon“ (!). Und der Name des Drehbuchs, eines von unzähligen abgelehnten Machwerken der Hollywood-Maschinerie, lautet übrigens “Argo”. Allein dies ist total irre, dass ein Film, bei dem nur so getan wurde, als ob er in der Mache sei, nun in Form einer Rekonstruktion dieser falschen Planung unter dem gleichen Titel tatsächlich den Weg in die Kinos gefunden hat!
Alan Arkin spielt in diesem Zusammenhang einen rein fiktiven Filmproduzenten, der aufgrund seiner Kaltschnäuzigkeit sowie dank seines losen Mundwerks mit einer weiteren Oscar-Nominierung rechnen darf. Hätte der Mann nicht bereits vor sechs Jahren etwas überraschend die Statuette für “Little Miss Sunshine“ gewonnen, er wäre in meinem Buch der klare Favorit für die nächste Verleihung. Er beweist zum zweiten Mal hintereinander, was für einen geilen alten Drecksack er spielen kann.
Alle anderen Schauspieler sind ebenfalls grandios besetzt, jedoch sticht niemand weiter gesondert hervor. Vielmehr ist es ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble, bei dem mich neben Arkin Ben Affleck selbst noch am meisten überrascht. Ich halte ihn weiterhin für einen mittelmäßigen Schauspieler, aber die Rolle des ruhigen, eher sachlich agierenden Tony Mendez passt einfach zu ihm. Dass Mendez im Übrigen im realen Leben lateinamerikanischen Ursprungs ist, kaschiert Affleck geschickt mit einer gut gebräunten Hautfarbe sowie einem dicken Bart.
Mehr braucht es jedenfalls nicht für einen grandiosen Film, ganz klar einem der besten diesen Jahres. Auffällig sind noch der hervorragende Schnitt, speziell in der Anfangsszene, in der der Sturm der amerikanischen Botschaft gezeigt wird, die sehr authentisch wirkende Kulisse inklusive dem 70er-Jahre-Kleidungsstil sowie phasenweise Alexandré Desplats Musik, auch wenn sich diese dezent im Hintergrund hält.
“Argo“ ist schlicht und ergreifend ein Glücksgriff in der Karriere von Ben Affleck, die so oder so in den letzten Jahren dank seiner Leistungen als Regisseur dramatisch an Reputation gewonnen hat. Ob es dann auch wirklich bei den Oscars für den großen Abräumer langt, möchte ich noch leise bezweifeln. “Argo“ ist letztlich vom Typ her ein Film, der ganz sicher nominiert, aber eher selten ausgezeichnet wird – siehe Costa-Gravas “Missing“, Clooneys “Good Night and Good Luck“ oder Gilroys “Michael Clayton“. Allerdings besitzt er im Gegensatz zu den meisten anderen politisch motivierten Filmen eine emotionale Komponente, die erstaunlich dezent wie clever integriert ist und mit der Beziehung zwischen Mendez sowie dessen Sohn zusammenhängt. Und das könnte bei den Academy-Wählern in der Tat für den nötigen Ausschlag sorgen.
Ich mag Affleck als Schauspieler wirklich nicht, aber Argo klingt perfekt nach meinem Geschmack. Muss ich mir wohl anschauen – aber wohl erst auf Blu-ray. Erstmal die anderen beiden Filme von ihm anschauen, The Town lief ja letztens im TV…(aufgenommen) :)
Affleck fing ja durchaus furios in seiner Karriere an. War er nicht, zusammen mit seinem Kumpel Matt Damon, fuer das Oscar-praemierte Drehbuch von “Good Will Hunting” verantwortlich? Dann kam noch der irre Streifen “Dogma” – wieder zusammen mit Damon -, in der er mich auch schauspielerisch ueberzeugen konnte.
Doch dann ging’s abwaerts, zumindest als Mime, und mich hat er eigentlich ueberhaupt nicht mehr interessiert, nachdem ich mich durch “Pearl Harbor” gequaelt hatte.
Umso besser, wenn er jetzt als Regisseur – und wohl auch als Schauspieler – seinen Tritt gefunden hat. “Argo” werde ich mir auf jeden Fall bei naechster Gelegenheit geben!
Die Gelegenheit ergab sich juengst im Flugzeit, und ich muss sagen, dass “Argo” ein wuerdiger Oscar-Gewinner ist. Mir hat besonders das stoisch-unaufgeregte Mimenspiel von Affleck und die wunderbare Zusammenfuehrung zwischen dokumentarischem Material und Filmszenen, insbesondere am Anfang des Films, gefallen.
Ausserdem schafft der Spiel das Kunststueck, dass das Ende verdammt spannend ist, obwohl man ja eigentlich weiss, was passiert. Auch das ist ein Beweis fuer ein grossartiges Filmgespuer!