Im Jahr 1998 war die Welt für Freunde des Computerrollenspiels alles andere als in Ordnung. Das altehrwürdige Genre, welches seit der Frühzeit der Computer- und Videospiele große Popularität genossen hatte, lag brach. Selbst einstmals glanzvolle Serien wie „Ultima“, „Wizardry“ oder „Might & Magic“ vermochten nicht an den Glanz vergangener Tage anzuknüpfen. Diese Situation ist heute, da das RPG wieder zu den beliebtesten Spielesparten zählt, kaum vorstellbar. Aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich ging tatsächlich von der Möglichkeit aus, dass die Computerrollenspiele in der Bedeutungslosigkeit verschwinden könnten, ähnlich wie die Adventures zur Mitte des letzten Jahrzehnts.
Einen Hoffnungsschimmer gab es noch: Ausgestattet mit der offiziellen „Advanced Dungeons & Dragons“ (AD&D)-Lizenz bastelte der noch weitgehend unbekannte kanadische Entwickler Bioware seit geraumer Zeit an einem Rollenspiel mit dem Namen „Baldur’s Gate“. Als dieses Spiel schließlich kurz vor Weihnachten 1998 erschien, rettete es fast im Alleingang ein gesamtes Spielgenre und machte nebenbei Bioware auf Jahre hinweg zum RPG-Gott.
Die Gründe für diesen überwältigenden Erfolg waren zahlreich: „Baldur’s Gate“ überzeugte optisch durch die isometrisch angelegte Infinity Engine, die äußerst detailreiche Darstellungen erlaubte, was die Szenerien sehr atmosphärisch werden ließ. Bioware schuf zudem ein absolut klassisches Rollenspielerlebnis mit einer sechsköpfigen Party, die vom Spieler in allen Aspekten verwaltet werden musste, sowie einem eng an das „AD&D“-Regelwerk ausgelegten Spielerlebnis. Jeder Erfahrungspunkt war hart erkämpft, jeder Stufenanstieg ein wahres Fest! Und schließlich stimmte auch die Handlung, die den Spieler an zahlreiche Orte der Schwertküste und natürlich auch in die namensgebende Stadt „Baldur’s Gate“ führte. Dabei musste man sich nicht nur mit einer Rohstoffkrise in den zu bereisenden Ländereien herumschlagen, sondern im weiteren Spielverlauf sich auch seiner eigenen düsteren Vergangenheit stellen. Um allen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, brauchten selbst geübte Abenteuer locker mal 40 bis 50 Stunden, was auch ein Verdienst der taktisch sehr anspruchsvollen Kämpfe war, für die Bioware die schon fast legendäre Pausefunktion zur geruhsamen Befehlsanweisung für alle Party-Mitglieder einführte.
Eine Idee davon, wie populär „Baldur’s Gate“ (und sein noch um einiges besser ausgefallener Nachfolger „Shadows of Amn“) über all die Jahre hinweg geblieben ist, konnte man bei der Ankündigung einer „Enhanced Edition“ Anfang 2012 erahnen: Weltweit schienen Rollenspielfreunde diesem Erscheinungstermin derart entgegen zu fiebern, dass man vermuten hätte können, es ginge um den nie erschienenen dritten Teil der Serie. Doch wie „Enhanced“ ist die Neuauflage, die auch für iOS und Android entwickelt wurde, im Vergleich zum 14 Jahre alten Original ausgefallen? (Anmerkung: Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die PC-Version von „Baldur’s Gate Enhanced“, kann also keine Aussagen zu den Unterschieden, insbesondere hinsichtlich der Steuerung, für die mobilen Systeme machen.)
Kurz gesagt sollte ich wohl einsehen, dass „Enhanced“ ein relativer Begriff sein kann, denn „Baldur’s Gate Enhanced“ schaut genauso aus und fühlt sich ebenso an wie das angegraute Original. Als größte technische Errungenschaft muss wohl angemerkt werden, dass die Infinity-Grafik so skaliert wurde, dass sie auch auf modernen Flachbildschirmen jenseits der 25 Zoll ansehnlich ist. Wer aber hier eine stark verbesserte Optik oder auch neue Animationen erwartet hat, schaut sich vergeblich danach um. Das wiederum öffnet aber den Blick dafür, wie gut die markante Isometrie-Ansicht gegenüber manch anderen Spielen aus der gleichen Zeit gealtert ist. Denn die Schwertküste ist auch heute noch eine sehr hübsche Gegend, die zu ausgiebigen Entdeckungstouren einlädt.
Ein gleiches Bild zeigt sich bei der Musik, der Sprachausgabe und der Steuerung. Alles ist beim Alten, was bedeutet, dass immer noch kurze, aber passende Melodien die ausufernden Reisen begleiten, während nur wenige Passagen der umfangreichen Spieltexte gesprochen werden. Und die Steuerung verlässt sich weiterhin hauptsächlich auf Mausicons und vereinzelte Hotkeys, lässt aber schmerzlich einige Komfortfunktionen vermissen, die erst nach Erscheinen des Originals zum Standard wurden (z.B. eine Schnellreisefunktion, ein Sortier-Button im Inventar oder auch ein vereinfachtes Übertragen von Zauberformeln ins Magiebuch). Da wäre aus meiner Sicht mehr „Enhancement“ drin gewesen!
Bliebe der eigentliche Spielinhalt, und hier gibt es dann doch einige Erweiterungen, die das Wort „Enhanced“ rechtfertigen könnten: Zum einen haben die „Überarbeiter“ von Overhaul Games das erweiterte Regelwerk von „Baldur’s Gate 2“ auf die „Enhanced“-Version des Vorgängers übertragen. Damit können Spieler auf wesentlich mehr Charakterklassen und Modifizierungsmöglichkeiten zurückgreifen. Das wurde wiederum dafür genutzt, neue, potentielle Party-Mitglieder in das Spiel einzubauen, darunter eine höchstinteressante „Wild Mage“ oder einen eher unsympathischen Halborc. Diese neuen Charaktere bringen auch ergänzende Quests mit sich, was die ohnehin schon beachtliche Spielzeit noch etwas erhöht. Dass auch das offizielle Add-on „Tales of the Sword Coast“ in die „Enhanced“-Ausgabe integriert wurde, ist eigentlich Ehrensache. Wer dann immer noch nicht genug hat, kann sich noch an die „Black Pits“ wagen, eine Art Kampfarena, verteilt auf 15 Stockwerke.
Was bleibt also zur „Enhanced Edition“ von „Baldur’s Gate“ abschließend zu sagen? Das ist ziemlich schnell auf den Punkt gebracht. Denn wer bislang diesen Meilenstein im RPG-Bereich verpasst hat, kann und MUSS das jetzt nachholen! Andererseits bietet mir persönlich die Neuauflage zu wenig Neues, um den Kaufpreis von knapp 15 Euro für diejenigen zu rechtfertigen, die das Original von 1998 besessen und genossen haben.
Doch unabhängig davon zeigt das riesige Interesse an dieser erweiterten „Baldur’s Gate“-Version, was für einen Ausnahmetitel Bioware vor 14 Jahren ins Rennen geschickt hat, um ein ganzes Genre wiederzubeleben – und allein dafür ist die „Enhanced Edition“ eine geglückte und würdige Hommage!
Nachtrag in eigener Sache als “Baldur’s Gate”-Fan:
Es gibt mittlerweile eine Fan-Mod, die mit der Engine von “Neverwinter Nights 2” (inkl. aller Add-on) erstellt wurde und den ersten Teil von “Baldur’s Gate” inkl. “Tales of the Sword Coast” beinhaltet (allerdings nur auf englisch). Wer also wirklich mal ein “Enhancement” in Sachen Technik sehen und die Schwertkueste mal aus einer anderen Perspektive kennenlernen moechte, sollte diesem Fan-Projekt mal eine Chance namens “Baldur’s Gate Reloaded” mal eine Chance geben.
Hier der Link:
http://neverwinter2.nexusmods.com/mods/794/?