Point & Click Abenteuer mögen für viele wie eine aus der Zeit gefallene Spielegattung wirken. Walking Sims oder Narrative Exploration Games liegen hoch im Kurs. Ich-Perspektive und ein Schwerpunkt auf Entscheidungsfreiheit sind angesagt. Doch “Unforeseen Incidents” hält die Fahne der klassischen Point & Click Adventures hoch.
So ganz weg waren sie aber nie, vor allem nicht aus deutscher Entwickler*Innen-Perspektive. Denn Spiele wie “Anna’s Quest”, die “Deponia”-Reihe oder “The Whispered World/Silence” von Daedalic zeigen regelmäßig, dass in dem Genre noch Leben steckt. Nun schickt sich das Studio Backwoods Entertainment aus Bochum an, ein etwas anderes Abenteuer darzubieten.
Das Szenario gestaltet sich dabei düsterer als die meisten Genre-Kollegen. Im beschaulichen Dorf Yaletown ist plötzlich eine infektiöse Krankheit ausgebrochen. Obwohl die von der Regierung eingesetzte Gesundheitstaskforce versucht, die Bedenken der Bevölkerung zu beschwichtigen, häufen sich die Erkrankungsfälle. Bewohner*Innen, die Symptome zeigen, verschwinden in abgeriegelten Camps.
Mittendrin befindet sich der findige aber eher faule Bastler Harper Pendrell. Als er auf dem Weg seinem Freund Professor McBride zu helfen auf eine im Sterben liegende Infizierte trifft, gerät sein Leben völlig aus dem Ruder. Zusammen mit der Enthüllungsjournalistin Jane Halliwell versuchen die drei herauszufinden, wer hinter dem Ausbruch des tödlichen Virus steckt und gleichzeitig ein Heilmittel zu finden. Dabei treffen sie auf Schrottplatzbesitzer, kauzig-paranoide Künstler, fiese Agenten und sture Ranchbesitzer.
Na, habt ihr nebenbei auch die Figuren-Liste abgehakt? Ja, was das Ensemble betrifft, traut sich “Unforeseen Incidents” wenig Neues. Wir haben den sympathischen Loser als Protagonisten, den alten Weisen, die intelligente, weibliche Nebenfigur und auch sonst treffen wir im Spiel auf viele quasi alte Bekannte.
Wenn ihr der Sache aber eine Chance gebt und ihr euch darauf einlasst, werdet ihr schnell in die Geschichte eingesogen. Denn die Story und ihr Fortgang sind spannend geschrieben. Marcus Bäumer (Hauptautor) und Alasdair Beckett-King (Co-Autor) liefern ein mitreißendes Drehbuch ab. Hinzu kommt eine außerordentliche gute Synchronsprecher*Innenleistung und Lokalisierung. Sowohl in der deutschen als auch in der englischen Fassung sitzt jeder Satz und passt jeder Dialog. Die Stimmen der Sprecher*Innen passen perfekt auf die Rollen und treffen immer den richtigen Ton. Für Hörspiel-Connaisseure bietet die deutsche Fassung darüber hinaus noch einen stimmlichen Leckerbissen. Selten fiel es mir schwerer mich für eine Sprache zu entscheiden. Ich blieb bei Deutsch.
Der reduzierte Soundtrack verweilt dabei stimmungsvoll im Hintergrund. Eine Gitarre klimpert sanft ein, zwei Akkorde oder eine Violine klagt sanft ihre traurige Melodie. So entsteht eine Atmosphäre des latenten Unwohlseins. Twin Peaks trifft Akte X mit einer Prise Lost. Zwar besitzt “Unforeseen Incidents” Humor, aber oft sind Harpers Witze eher ein Bewältigungsmechanismus und überzeugen ihn selbst nicht. Auch später, wenn mehr und mehr aufgedeckt wird, wirken die Erkenntnisse eher niederschmetternd auf ihn. Harper wird auch nie zum großen Helden. Er scheitert oft, hadert mit sich und der Aufgabe, muss überredet werden. Journalistin Halliwell macht die Hauptarbeit um die Verschwörung zu stoppen, auch wenn wir davon nicht viel on screen mitbekommen.
Die Dinge, die wir auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, präsentieren sich uns in einer eigenwilligen aber ebenso stimmigen Graphik. Dabei hat Backwoods Entertainment aus der Not eine Tugend gemacht. Das Kern-Team besteht aus lediglich drei Personen, die Entscheidung statt auf 3D auf gezeichnete 2D-Animationen zu setzen geschah daher zunächst aus pragmatischen Gründen. Der grobe Strich des Artworks erinnert an dreckige Cartoons oder Comics aus den 90ern wie “The Maxx”. Dabei wirken die Figuren alle, als hätten sie 3 Tage kaum geschlafen, was zu der angespannten Situation der Story passt. Eine cleane, 3d-animierte Graphik oder knuffig gezeichnete Knollennasen hätten der Atmosphäre wohl eher im Weg gestanden. Gleiches gilt für die Hintergrundszenerien. In den unterschiedlichen Kapiteln kommen wir an viele verschiedene Orte, die unsere Neugier immer wieder wecken und unsere Rätselfähigkeiten wiederholt auf die Probe stellen.
Zentrale Mechanik des Spiels sind Gegenstandskombinationen und Schalterrätsel. Passend zu Setting und Story läuft das alles logisch und nachvollziehbar ab. Da Harper zwar geschickt mit den Händen ist, aber bei weitem nicht allwissend, benötigen wir hin und wieder zunächst eine Art Bedienungsanleitung. So können etwa Pflanzen erst aufgehoben und identifiziert werden, wenn wir einen Wald- und Wiesenführer gefunden haben. An einer anderen Stelle müssen wir per Hand Fotos entwickeln. Aber das klappt erst nachdem wir den Beipackzettel des Do-it-yourself-Baukastens studiert haben. Das unterscheidet “Unforeseen Incidents” von den meisten Point & Click Adventures, bei denen wir einfach wild und oft planlos alle möglichen Gegenstandskombinationen ausprobieren. Missverständnisse und frustige Hänger wie im immer wieder gern zitierten “Monkey Island” bleiben so aus. Frustmomente gibt es in “Unforeseen Incidents” allgemein sehr selten. Nur manchmal findet man trotz einblendbarer Interaktionspunkte wichtige Gegenstände nicht, da sie etwas unglücklich platziert sind. Diese verdammten Chilischoten!
Achtung, Spoiler im folgenden Absatz!
Wenn wir uns die Story unter der kulturanalytischen Linse einmal genauer ansehen, wirkt “Unforeseen Incidents” auch hier ein wenig wie aus einer anderen Dekade. Die Angst um Biowaffen, vor allem Viren, spiegelte sich vor allem in der Popkultur aus Mitter der 90er bis Mitte der 2000er Jahre wider. Filme wie “Outbreak” (1995), “12 Monkeys” (1995), “28 Days later” (2002) oder “Contagion” (2011) verarbeiteten diese kollektive Angst auf unterschiedliche Weise. Selbst Action-Blockbuster wie “Mission Impossible II” (2000) griffen die Thematik auf. Abseits der Zombie-Trope ist das Sujet jedoch mittlerweile aus der Popkultur nahezu verschwunden. Dennoch wirkt “Unforeseen Incidents” mit seiner Story um korrupte, skrupellose Politiker*Innen und Opportunisten nicht altbacken. Der Gesundheitssektor ist weiterhin ein existenziell wichtiger Bereich für die Gesellschaft und die Fragen nach Kontrolle und Profiteuren der Pharmaindustrie längst überfällig. Das Spiel überspitzt und dramatisiert diese Fragen natürlich um Spannung und Unterhaltung zu erzeugen. Dabei greift es jedoch auch aktuelle Entwicklungen wie die wachsende Zahl von Verschwörungstheoretikern oder die Manipulationsmacht der Medien auf. Das Spiel lenkt unsere Aufmerksamkeit also auf ein Thema, dass bereits viel zu lange unangetastet liegt.
Spoiler Ende!
Zugegeben, “Unforeseen Incidents” erfindet das Point & Click Rad nicht neu. Aber das Spiel erzählt eine spannende Mystery-Geschichte und bietet einige Stunden feinsten Rätselspaß. Wenn ihr also über ein paar Tropen und Stereotypen hinwegsehen könnt oder diese vielleicht sogar besonders mögt, dann solltet ihr euch “Unforeseen Incidents” nicht entgehen lassen.