Vorbei. Vorbei und aus! Nach etlichen Jahren (wie viele genau ist hier nicht relevant) habe ich mein Studium der Geschichte mit dem Master absolviert. Für den geneigten Leser mag sich das entweder wie das langweiligste, belangloseste oder aber erschreckendste Studienfach anhören – mir persönlich brachten die letzten Jahre aber einiges an Erkenntnis.
Beispielsweise die, dass sich Menschen durchaus für Geschichte begeistern lassen, auch durch Spiele. Ob nun die “Total War”-Reihe, “Hearts of Iron”, “Mount & Blade”, “Assassin’s Creed” oder “Civilization” – viele Titel versetzen den Spieler nicht nur in eine vergangene Epoche, oftmals geben sie ihm auch die Chance, mehr oder minder direkt in den Lauf der Geschichte entscheidend einzugreifen. In “Civilization V” überrollte ich im 17. Jahrhundert die halbe Welt mit Panzern, in “Assassin’s Creed 2” prüfte ich da Vincis Fluggeräte auf ihre aviatischen Eigenschaften, in “Mount & Blade: With Fire and Sword” kämpfte ich gar an vorderster Front als Herzog von Was-auch-immer-Land und errichtete ein Imperium.
Geschichte schreiben
Diese “Was wäre wenn”-Gedankenexperimente laufen in der wissenschaftlichen Kategorie “kontrafaktische Geschichtsschreibung” und sind mit ihrer Fiktion zu einem spannenden Feld innerhalb der Disziplin geworden. Beispiel “Making History“, ein Roman von Stephen Fry: Ein junger Historiker reist durch die Zeit, tötet Adolf Hitler als Kind und freut sich dann wie Bolle, als er in seine Zeit zurückkehrte. Schließlich habe er ja einen der größten Massenmörder aller Zeiten getötet und viele, viele Millionen Menschen gerettet. Doof nur: Hitler kennt logischerweise keine Sau, weil dieser nie lebte und folglich seine Terror-Herrschaft errichten konnte. Stattdessen gab es einen wesentlich gewiefteren und noch skrupelloseren Machtpolitiker, der ein faschistisches Deutschland in die europäische Hegemonialstellung brachte.
“Making History” war zu Beginn meines Studiums eine Literaturempfehlung, da wir begreifen sollten, welche Wendungen Geschichte nehmen konnte – selbst bei “kleineren” Änderungen.
Die kontrafaktische Geschichtsschreibung ist ein Grund, weshalb ich mich auf “Grand Ages: Medieval” freute, ein Aufbaustrategiespiel aus dem Hause Kalypso. Es versprach, mich in das europäische Mittelalter zu versetzen und mir als Lokalfürsten alle Möglichkeiten zu geben, eine Herrschaft über ganz Europa ausbreiten zu können. Und das in hübscherer Optik als “Europa Universalis”, welches mit dem Charme alter Excel-Anwendungen daher kam, mir dafür aber wirklich alle Optionen anbot.
Es war einmal…
In “Grand Ages: Medieval” ist der Einstieg für den historisch interessierten Zocker niedrig. Die Kampagne, angesiedelt im Jahr 1067, beginnt mit der Abdankung Konstantins X., der altersschwach nicht mehr in der Lage ist, das Oströmische Kaiserreich zu führen. Statt nun die Geschichte den verbürgten Abläufen entsprechend nachzustellen und Ramonos IV. nachfolgen zu lassen, seid ihr als Lokalfürst in der hübschen Rolle, euch mit Konstantins Tochter vertraut machen zu können. Sie sucht nach dem fähigsten Herrscher unter all den kleinen Lichtern. Zeit, dass eures heller strahlt!
Hierzu sorgt ihr euch um die wirtschaftliche Prosperität, erforscht im Rahmen dessen, was das Mittelalter an “Innovationen” hergab und bekämpft ganz nebenbei Aufständische oder andere Kleinst- und Zwergenreiche. Der Fehler, den die Entwickler begehen, ist banal: Sie wollen eine Geschichte erzählen – eine, die der Historie zuwiderläuft, euch aber im engen Korsett von Zielvorgaben einengt.
Nicht nur einmal hatte ich Problem mit dem, was ich zu tun gedachte und dem, was das Spiel von mir verlangte. So “schrieb” mir Konstantins Tocher, sie wolle bald (sprich: 1067 n.Chr.) vorbeischauen und mein Reich inspizieren – um zu ergründen, ob ich als Nachfolger geeignet sei. Scheinbar nicht, denn meine höchsteigene Wahl, die Anzahl der Betriebe in meiner Heimstatt Sofia zu verdoppeln, hatte ein ständiges Auf und Ab der Wirtschaft nach sich gezogen. Mit der Konsequenz, dass der Besuch erst ein Jahrhundert später vom Spiel getriggert wurde, weil erst dann die auslösenden Bedingungen erfüllt waren. Meh.
Das Problem ist nicht nur das enge narrative Presskorsett, vielmehr offenbart sich die Hilflosigkeit des Spielers angesichts der wirren Tabellen, Auflistungen und weit verstreuten Informationen, sich einen Überblick zu verschaffen. Nur selten konnte ich ahnen, was eine kleinere Änderung nach sich zog. Das Drosseln der Produktionen meiner je fünf (selbst ausgewählten) Betriebe pro Stadt führte nicht nur zu einer Abwanderung meiner Stadtbevölkerung, sondern ebenso dazu, dass die Produktion auf ein Maximum gefahren wurde. Weiß der Geier wieso. Bis meine halbautomatisch agierenden Händler Getreide, Obst, Steine und Bier verkauft hatten, verstrich Zeit. Zeit, die ich gerne anderweitig genutzt hätte, zur Nachjustierung meiner Wirtschaft. Vergönnt war mir das Korrigieren nicht, denn kaum im Haushaltsminus legt euch “Grand Ages: Medieval” entscheidungstechnisch auf Eis. Dann seid ihr (und war ich) nur noch Passagier einer großen Geschichte, die selbst nicht zu beeinflussen ist.
Parallel hierzu die “Hearts of Iron”-Reihe oder deren Mittelalter-Pendant “Europa Universalis”: Um die Spiele aus dem Hause Paradox beherrschen zu können, braucht es ein weiteres Studium, mindestens. Dafür sind die Entscheidungen samt der daraus folgenden Konsequenzen jederzeit nachvollziehbar. Mehr noch, erlauben genannte Spiele, jedes noch so kleine Detail zu verändern – von der Wirtschaft über die Zusammensetzung der Einheiten bis zu komplexen Taktiken, ob und wie ich andere Länder einnehmen möchte. Zusammen mit dem Unterbau aus zig Variablen und Konstanten pro virtueller Landfläche sind die Spiele gehaltvoller und kohärenter.
Somit bleibt festzustellen: Weder als historisches Experiment, noch als Aufbauspiel zündet “Grand Ages: Medieval”.